Am 10.06.2021 organisierte der Bezirksverband Mittelfranken der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft eine Kundgebung am Kornmarkt in Nürnberg. Anlass waren vor allem die weiteren Maßnahmen des Kultusministeriums zur Aufrechterhaltung des Unterrichtsbetriebes an Grund-, Mittel- und Förderschulen. Meinen Redebeitrag zum Thema deutsches Bildungssystem veröffentliche ich hier auf meinem Blog zum Nachlesen. Feedback und Kommentare erwünscht!
Deutschland, eine Autofahrernation
Liebe Kolleg*innen, ich möchte mit einer Frage beginnen. Wer von Euch hat ein Auto?
*Nahezu alle Personen heben die Hand*
Für uns Deutsche scheinen Autos etwas Besonderes zu sein. Wir produzieren Autos. Und wir kaufen Autos, viele Autos. Wir achten darauf, was das Auto alles kann: Sicher muss es sein, darum nicht zu klein. Hier noch eine elektronische Spielerei, selbst einparken sollte es können, Sitzheizung für den Winter, Internet, Navigation, Bluetooth, ABS, ESP und so weiter. All das soll uns das Autofahren erleichtern und bequemer machen. Wir achten darauf, dass unser Auto keine Kratzer abbekommt. Wir putzen und polieren es. Jedes Jahr geben wir viel Geld für die Versicherung und für den Kundendienst aus. Alle zwei Jahre checkt der TÜV, ob mit dem Wägelchen alles passt und wir sicher unterwegs sind. Wenn irgendwo was knarzt oder quietscht, wird es repariert. Um es kurz zu machen: Das Auto ist sehr vielen Menschen in unserem Land sehr wichtig und wir werden auch als Autofahrernation bezeichnet. Das kann man auch mit Zahlen ausdrücken: Der Deutsche gibt im Durchschnitt mehr als 330000 Euro in seinem Leben für seine Autos aus.
Das Bildungsmobil
Ich habe noch eine Frage. Wer von Euch hat Kinder oder arbeitet mit Kindern?
*Nahezu alle Personen heben die Hand*
Ich habe ebenfalls drei Kinder. Und ich mag Autos, ja, aber meine Kinder sind mir dann doch um einiges wichtiger. Ich habe meine Kinder unserem Bildungssystem übergeben im Vertrauen, dass dieses Bildungssystem seine Aufgabe bestmöglich erfüllen wird. Nur das haben meine Kinder verdient. Und ein Land, das im Bereich Automobile weltweit eine führende Rolle einnimmt, sollte den Anspruch an die Bildung seiner Kinder doch maximal hoch ansetzen. Um beim Bild des Fahrzeugs zu bleiben: Ich erwarte, und ich spreche damit hoffentlich für die meisten Eltern, dass Kinder in einem der reichsten Länder der Welt zu Beginn ihrer Bildungskarriere in ein innovatives, sicheres, sozial gerechtes, qualitativ hochwertiges und zeitgemäßes Bildungsmobil einsteigen, dass auf ihrer Bildungsreise regelmäßig gepflegt, überprüft, gewartet, reflektiert und modernisiert wird und das in der Lage ist, ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, um sie sicher an ihr Ziel, nämlich der größtmöglichen und zufriedenstellenden Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu bringen. Ganz deutlich: Unsere Kinder sollten es uns wert sein, dass sie die vielen Jahre ihrer Schulkarriere unter besten Bedingungen verbringen. Ich möchte im Folgenden aufzeigen, warum unser Bildungssystem diesem Anspruch nicht gerecht werden kann und schlimmer, warum Bildungsqualität vor allem an Grund-, Mittel- und Förderschulen weiter sinken wird. Dazu schauen wir uns ein paar einzelne Bauteile unseres Bildungsmobils genauer an.
Karosserie und Inneneinrichtung
Beginnen wir also, um beim Bild des Autos zu bleiben, bei Karosserie und Inneneinrichtung. Grundvoraussetzung für gelungene Bildungsprozesse sollte ein ansprechender äußerer Rahmen sein. Damit meine ich sichere, gesundheitsförderliche und sowohl analog als auch digital gut ausgestattete Gebäude, freundliche und anregende Lernräume, sprich einladende Häuser, die Erkenntnisse der Pädagogik und der Lernpsychologie berücksichtigen. Unsere Kinder und schulisches Personal verbringen vor allem im Ganztag einen Großteil des Tages in der Schule. Lernräume werden hier zu Lebensräumen, und unsere Kinder haben es verdient, sich in den Schulen wohlzufühlen. Ich sage immer, wir müssten eigentlich von Lerntempeln sprechen, statt von Schulen. Die traurige Realität: Unser Bildungsmobil rostet an vielen Stellen, die Inneneinrichtung ist in der Breite muffig und karg, und alles wirkt irgendwie ungepflegt und nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Meine Kinder weigern sich beispielsweise, an ihren Schulen die Toiletten zu benutzen, weil sie die ekelhaft finden. Und das ist keine Ausnahme, sondern eher die Regel, fragt mal Eure Kinder.
In der Breite können auch positive Einzelbeispiele gelungener Schulbauten oder in eher kargen Räumen schnell aufgehängte große Bildschirme nicht darüber hinwegtäuschen: Es herrscht Sanierungsstau und innovativen Schulbau sucht man in der Breite vergeblich. Von Lerntempeln kann man definitiv nicht sprechen.
Steuerung
Weitere wichtige Bauteile sind Steuerung und Antrieb unseres Bildungsmobils. Auf dem Fahrersitz sitzen Schulleitungen, die die Verantwortung tragen. Sie überprüfen den sicheren Zustand des Fahrzeugs vor jedem Fahrtantritt und übernehmen Verantwortung für den Antrieb, geben Gas, treten auf die Bremse, koordinieren durch Schaltvorgänge den Motor und geben mit dem Lenkrad die Richtung vor. Dabei ist es wichtig, dass sie kompetent agieren und die Rückmeldungen der Antriebsbauteile berücksichtigen. Schlägt man das Lenkrad zu stark ein oder bremst man zu selten, droht ein Unfall. Schaltet man falsch, droht ein Motorschaden. Meiner Ansicht nach kommen Schulleitungen vor allem moderierende und motivierende Aufgaben zu. Im optimalen Fall koordinieren sie gemeinsam mit dem Antrieb, ihren Kollegien, Schulprofile, die sich ausschließlich am Wohl der Kinder orientieren. Sie sind die Organisatoren ständig notwendiger Schulentwicklung, sie sind Organisatoren ständiger Lernprozesse auch auf Seiten der Kollegien, sie sind letztendlich ein wichtiger Baustein, um gemeinsam das Bildungssystem weiterzuentwickeln. Ausführlich habe ich mich zu diesem Thema mit meinem Kollegen Joscha Falck auf seinem Blog unterhalten.
Doch der Blick auf die Realität ist ernüchternd. Wie selbstbestimmte Fahrer*innen werden sich Schulleitungen in der Regel nicht fühlen. Regelmäßig zentral gestellte Vorgaben gilt es zu erfüllen. Gerade in den letzten Monaten war die Flut an kultusministeriellen Anweisungen unfassbar hoch. Freitags kam, was Montags umgesetzt sein musste. Erwartet wurde Expertise auch in Fragen des Hygieneschutzes, in Fragen der Arbeitssicherheit und vor allem in der Verwaltung. Unterstützung personeller Art? Fehlanzeige. Schon vor Corona reichten die Kapazitäten der Schulleitungen nicht aus, ächzten und stöhnten sie aufgrund der Fülle an Verwaltungstätigkeiten. An innovative Schulentwicklung war in der Breite nicht zu denken. Jetzt müssen sie sich auf dem Arbeitsmarkt nach externem Personal umsehen, um Förderangebote im Rahmen von „gemeinsam.Brücken.bauen“ und im nächsten Schuljahr vor allem den geregelten Unterrichtsbetrieb organisiert zu bekommen. Schulleitungen werden immer mehr als Krisenverwalter missbraucht, die auf eigene Faust versuchen müssen, die Löcher zu stopfen. Wie oft habe ich von geschätzten und motivierten Kolleg*innen aus Schulleitungen gehört, dass sie, Entschuldigung Zitat, diesen Scheiss so nicht mehr mitmachen wollen und können. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass auch im Bereich der Schulleitungen der Lehrkräftemangel zurückschlägt und sich auf Funktionsstellen niemand mehr bewirbt. Motivierend sind diese Arbeitsbedingungen nicht.
Antrieb
Mit eines der wichtigsten Teile an einem Fahrzeugs ist der Antrieb. Und der funktioniert nur, wenn sämtliche Komponenten vorhanden und funktionsfähig sind. Ansonsten fährt das Fahrzeug schlichtweg nicht. Ich habe lange überlegt, welche Analogie ich hier ziehe. Klar ist, der Antrieb ist die Gesamheit des schulischen Personals. Gepflegt und gehegt greifen die Bauteile ineinander und sorgen für ein reibungsloses Fortkommen, Hindernisse werden locker bewältigt oder umfahren. Und wenn ich an meine Kinder denke, dann nimmt das schulische Personal die wichtigste Funktion ein. Über bauliche Mängel oder fehlendes W-Lan an Schulen kann man hinwegsehen, aber die Menschen, die im Bildungsprozess meiner Kinder für die Gestaltung der Bedingungen verantwortlich sind, sollten bestmögliche Arbeitsbedingungen vorfinden, um bestmögliche Lernbedingungen für meine Kinder schaffen zu können. Genug Zeit für pädagogische Aufgaben, genug Zeit für die eigene Fortbildung und vor allem genug Zeit für den Schulentwicklungsprozess, der für eine, und da sind sich Experten ja einig, Reform des Bildungssystems so wichtig wäre. Nur, wer zufrieden seiner Arbeit nachgeht, bringt die notwendige Motivation mit, die wichtigen Aufgaben auch anzupacken. Gerade im Bildungsbereich unserer Kinder sollte das unsere oberste Prioriät sein.
Um wieder zum Bild des Fahrzeugs zurückzukehren: Der Antrieb funktioniert schon länger nicht mehr, schlicht, weil wichtige Bauteile fehlen. Zwar hat man versucht, den Motor immer wieder durch verschiedene Maßnahmen am Laufen zu halten, beispielsweise mit dem Piazolo-Paket vom letzten Jahr, das Lehrkräfte dazu verpflichtete, mehr zu arbeiten, aber wenn man ehrlich ist, dann passt das Bild eines funktionierenden Antriebs längst nicht mehr. Mir kam ein ganz anderes Bild in den Sinn. Man hat aufgrund des Mangels mittlerweile aufgegeben, auf den fortschrittlichen Antrieb zu setzen. Man gibt sich zufrieden damit, dass das Bildungsmobil irgendwie den Anschein erweckt sich zu bewegen. Auf das Dach hat man einen Kutschbock installiert und vor das Auto Gäule gespannt. Auf dem Kutschbock sitzt der Peitschen schwingende Antreiber, während die Pferde vorne ächzen und schnaufen und verzweifelt versuchen, die riesige Last irgendwie zu ziehen. Anstatt die Last zu verringern, wird die Peitsche einfach erneut geschwungen. Doch die Fahrt ist holprig und unbequem, und unsere Kinder versuchen sich irgendwie festzuhalten, purzeln auch immer mal wieder aus dem Bildungsmobil, aber es fehlt die Kraft der Zugpferde, auch noch darauf Acht zu geben. Zur Situation der Lehrkräfte während der Pandemie habe ich in einer Rede zu einer Kundgebung im Oktober 2020 Stellung bezogen.
Lasten müssen zu schultern sein
Es ist offensichtlich, dass die Last, die unser Bildungssystem seinen Beschäftigten auflädt, nicht mehr zu schultern ist und wichtige und notwendige Aufgaben, wenn überhaupt, nur unzureichend erledigt werden können. Ich habe noch nichts über die Tatsachen gesagt, dass unser Bildungssystem sozial ungerecht ist, dass Verständnis der Staatsregierung von Inklusion nichts mit dem Gedanken der Inklusion zu tun hat, dass die Selektion nach vier Jahren Grundschule und die starre Ausrichtung auf das Leistungsprinzip und die Notengebung den Annahmen von kindlichen Lernprozessen widersprechen, dass das starre Lernen in festen jahrgangsgebundenen Klassen nicht mehr zeitgemäß ist und dass wir einem Bildungsverständnis folgen, das vor allem die möglichst schnelle Verwertbarkeit unserer Kinder für die Arbeits- und Konsumwelt zum Ziel hat.
Die Warnungen der Gewerkschaft sind seit Jahren eindeutig. Neben vielen durch Corona klar aufgezeigten Problemfeldern unseres Bildungssystems ist und bleibt der Lehrkräftemangel das Hauptproblem, der jetzt so gravierend wird, dass ans pädagogische Angebot rangegangen werden muss. Man muss sich aufgrund der neuen Maßnahmen des Kultusministeriums an Grund-, Mittel- und Förderschulen darauf einstellen, dass die Kinder in vielen Bereichen keine angemessen qualifizierten Lehrkräfte mehr vor sich stehen haben. Berechnungen gehen von über 15000 Unterrichtsstunden an Grund- und Mittelschulen aus. Auch die Maßnahmen im Bereich der Lehrerausbildung im Mittel- und Förderschulbereich schlagen in die gleiche Kerbe. Ein erstes Staatsexamen mit der fachlichen Vertiefung und dem erziehungswissenschaftlichen sowie pädagogischem Studium ist als Voraussetzung für den Einstieg in den Vorbereitungsdienst nicht mehr notwendig. Auf der einen Seite ist die Gefahr einer Minderung der Bildungsqualität groß, auf der anderen Seite erhöhen die Maßnahmen die Belastungen für die bestehenden Fachkräfte erneut.
„Es gibt keinen Lehrkräftemangel“
Ich habe keine konkreten Lösungen für die meiner Meinung nach umfassenden Probleme unseres Bildungssystems. Fakt ist: Es werden immer mehr Aufgaben an Schulen abdelegiert, ohne zusätzliche Ressourcen zu schaffen. Dominik Schöneberg beschreibt das auf seinem Blog „Bildungslücken“ sehr anschaulich. Das kann auf Dauer nicht gutgehen. Und es gibt politische Verantwortlichkeiten. Die Probleme sind hausgemacht und die jetzige Situation ist Ergebnis vieler Jahre der Fehlplanung und der Unterfinanzierung. Was ich erwarte, ist Ehrlichkeit und kein politisches Gebahren mehr, um die Realität in der Öffentlichkeit zu verschleiern. Ich finde es unfassbar: Beim Bayerischen Rundfunk negiert Kultusminister Piazolo den Lehrkräftemangel. Auf eine Anfrage der SPD im Landtag, mehr oder weniger tagesaktuell, formuliert das Kultusministerium folgendermaßen: „Das Staatsministerium hat bei der Gesamtpersonalplanung sowohl die Situation an den einzelnen Schulen als auch allgemein die Sicherung der hohen Qualität des bayerischen Bildungssystems sehr genau im Blick. In den letzten Jahren ist es gelungen, alle offenen Lehrerstellen qualifiziert zu besetzen.“ Dabei stellt Moritz Baumann in der SZ dar, dass interne Berechnungen des Ministeriums Schlimmes befürchten lassen.
Das ist schlichtweg nicht ehrlich. Wenn das Kultusministerium von multiprofessionellen Teams spricht, weil jetzt externes Personal zum Lückenfüllen an die Schulen kommt, dann ist das eine Täuschung. Wenn das Kultusministerium von einer Inklusionsmaßnahme spricht, weil Gymnasiallehrkräfte sich an Förderschulen abordnen lassen können, um dort die Lücken zu füllen und dann mit „sonderpädagogischer Kompetenz“ ans Gymnasium zurückkehren, dann ist das eine Täuschung. Wenn Lehrkäfte unabhängig der studierten Schulart durch Zweitqualifizierungsmaßnahmen irgendwie für andere Schularten fit gemacht werden, und man das als politischen Erfolg verkauft, dann ist das eine Täuschung. Wenn das Kultusministerium ehrlich wäre, würde es längst nicht mehr von Bildungspolitik sprechen, sondern von Krisenmanagement.
Lieber Bildungsnation als Autofahrernation
Ich erwarte, dass das Kultusministerium die Schwierigkeiten klar benennt und den Mut aufbringt, sich gemeinsam mit Gewerkschaften und Verbänden auf den Weg zu machen und die grundlegenden Probleme unseres „Bildungssystems“ endlich auch grundlegend anzugehen. Es gibt im Bildungsbereich viele Visionäre aus der Praxis, die mit tollen und innovativen Ideen und Konzepten an vielen Schulen Bildung längst neu denken und von denen man profitieren kann. Man muss es nur endlich anpacken.
Ich habe zu Beginn meine Vorstellung einer Schule skizziert, in die ich meine Kinder mit gutem Gewissen schicken würde. Und ich habe aufgezeigt, wie sehr wir Deutschen uns um unsere Autos kümmern. Ich würde mir wünschen, dass Eltern, Pädagogen und alle Mitglieder unserer Gesellschaft eine ähnliche Wertschätzung auch für unser Bildungssystem aufbringen würden. Man stelle sich vor, Kinder wären Automobile und der Durchschnittsdeutsche müsste sie jeden Tag 8 Stunden anderen Menschen vertrauen. Stattdessen immer und immer wieder Lehrerbashing in der Öffentlichkeit und unverschämte Kommentare aus dem Ministerium, wenn Lehrkräfte auf die Missstände aufmerksam machen. Ich kann es nur betonen. Unser aller Kinder hätten diese Wertschätzung verdient! Bildung ist mehr wert, weil unsere Kinder mehr wert sind. Wir sind eine Autofahrernation? Es wäre mir unendlich lieber, man würde uns aufgrund unseres Bildungssystems als Bildungsnation bezeichnen.
Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit!