Spannend wurde es Ende November in meiner Klasse, da ein Filmteam der Medienwerkstatt Franken zu Besuch kam und meine Klasse und mich filmte. Für die Dokumentation „Schule ohne Aussortieren – Wie Menschen aus der Region Bildung neu denken“ durfte ich einige Beiträge beisteuern. Im Vorfeld schickte mir Autorin Vanessa Hartmann für das Interview Leitfragen zu, die ich für mich beantwortete. Zwar verlief das Interview dann natürlich wie gewöhnlich ganz anders, das fiktive Interview möchte ich an dieser Stelle aber trotzdem veröffentlichen.
Vanessa Hartmann:
Sie sind sehr engagiert im Bildungsbereich; als Personalrat, bei der GEW, als Blogger und auf Social Media – warum?
Florian Kohl:
Ich bin in einem Lehrerhaushalt aufgewachsen, habe seit meiner Kindheit Kontakt zu behinderten Menschen, habe Sonderpädagogik in Würzburg studiert, dann das Referendariat in Nürnberg gemacht und mittlerweile selbst drei Kinder im Schulsystem – und ich habe einfach immer wieder Punkte gefunden, die mich gestört haben und die ich als verbesserungswürdig empfunden habe und immer noch empfinde. Drum bin ich in mehreren Feldern gerne aktiv. Das macht mir Spaß.
Vanessa Hartmann:
Ihre größten Kritikpunkte am bayerischen Schulsystem?
Florian Kohl:
Das bayerische Schulsystem entspricht nicht den Ansprüchen der Behindertenrechtskonvention an ein inklusives Schulsystem. Anstatt alle Kinder gemeinsam miteinander und auch voneinander lernen zu lassen und Persönlichkeitsentwicklung, soziales Lernen und Demokratiebildung in den Mittelpunkt zu stellen, lernen Kinder bereits ab der zweiten Klasse alle das gleiche zur gleichen Zeit und werden dafür mit sechs Ziffern benotet. Kinder erfahren damit unweigerlich, dass Leistung etwas ist, was nicht individuell entsteht, sondern im Wettbewerb beurteilt wird. Diejenigen, die von Zuhause die besten Voraussetzungen mitbringen, haben auch die besten Chancen. Und bereits nach der vierten Klasse meinen wir dann, die Kinder entsprechend ihrer Begabungen auf verschieden Schulen aufteilen zu müssen. Das ist einfach viel zu früh.
Wir setzen in Bayern viel zu stark auf einen sehr begrenzten Leistungsbegriff, verstehen Bildung als Wettbewerb und vernachlässigen dabei Demokratiebildung, Persönlichkeitsentwicklung und Inklusion. Kinder und ganze Familien geraten bereits in der Grundschule stark unter Druck, Stichwort Grundschulabitur, und werden meiner Meinung nach viel zu früh auf verschiedene Schularten getrennt. Jedes Elternteil kennt das: Spätestens ab der zweiten Klasse wird die Unlust immer größer, geht die intrinsische Motivation verloren, weil wir davon ausgehen, dass es richtig ist, alle Kinder gleichzeitig das gleiche machen zu lassen. Erfolg hängt stark von der Unterstützung zuhause ab, und viele Kinder erleben ihre Leistung und damit auch ein Stückweit sich selbst zum ersten Mal als „befriedigend“, „ausreichend“ oder sogar „mangelhaft“. Mittlerweile gehen immer mehr Kinder aufs Gymnasium oder die Realschule, und viele Mittel- und Förderschulen verkommen zu Schulen, in denen sich die „Problemfälle“ häufen, die Folgen verfehlter Sozialpolitik aufschlagen und die mit den bestehenden Ressourcen den Anforderungen nicht mehr gerecht werden können.
Vanessa Hartmann:
An einer idealen Schule – was müsste da Ihrer Meinung nach wie unterrichtet werden?
Florian Kohl:
An einer idealen Schule lernen Kinder vor allem gemeinsam, miteinander und damit auch voneinander. Selbstvertrauen, Selbstständigkeit, soziale Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit sind die Grundlagen jeden erfolgreichen Lernens. Es braucht keine Klassenzimmer mehr, Mitbestimmung wird von Beginn an gelernt und geübt und die Lehrkraft gibt nicht mehr alleine Inhalt und Form vor, sondern begleitet die Lernschritte, die jedes Kind gehen kann. Die Schule verfügt über ausreichend qualifiziertes Personal, Multiprofessionalität und Teamarbeit sind selbstverständlich und natürlich ist die Ausstattung zeitgemäß. Ich sage immer, dass wir angesichts der Tatsache, dass Bildung unsere wichtigste Ressource ist, unsere Kinder eigentlich in Bildungspaläste schicken müssten. Es gibt durchaus Schulen, die in diesem Ansatz unterrichten – die gewinnen auch gerne Schulpreise, nur schaffen es die Konzepte nicht in die Breite.
Vanessa Hartmann:
Sie sagen, unser Schulsystem produziert zu viele Verlierer*innen. Man könnte aber auch sagen, dass es in Bayern verglichen mit anderen Bundesländern vergleichsweise wenige Schüler*innen ohne Mittelschulabschluss gibt; dass zum Beispiel das sehr inklusive Land Bremen mit wesentlich schlechterer Quote dasteht oder der Anteil von Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss, die von Gesamtschulen kommen, mit fast 20 Prozent sehr hoch ist. Beim ifo-Bildungsbarometer schnitt Bayern beim Thema Zufriedenheit mit den Schulen besser ab als andere Länder.
Spricht all das nicht für unser viergliedriges Schulsystem?
Florian Kohl:
Das spricht erstmal dafür, dass Bayern als sehr reiches Bundesland in den Vergleichstests besser dasteht. Es muss aber auch klar sein, dass der Daumen in Bayern insgesamt nach unten zeigt und sich die Situation in den letzten Jahren teilweise dramatisch verschlechtert hat. Man darf von diesen Vergleichstest wenig halten, und sollte sich den Gesamtkontext anschauen. Unter welchen Rahmenbedingungen wird an welchen Schulformen gearbeitet? Der Lehrkräftemangel bestimmt seit Jahren die Diskussion, und unter schlechten Bedingungen kann kein Schulsystem gut abschneiden. In anderen Studien, beispielsweise zur Inklusion, zur politischen Bildung oder zur Bildungsgerechtigkeit, steht Bayern dagegen dann auf den hinteren Plätzen.
Vanessa Hartmann:
Viele Fakten liegen zum Teil seit langem auf dem Tisch – Schüler*innen in inklusiven Settings schneiden besser ab, eine längere gemeinsame Grundschulzeit wirkt sich positiv auf verschiedenste Kompetenzen und das Selbstkonzept aus, angstfreies Lernen ermöglicht bessere Leistungen,, Noten sind nicht objektiv und vieles mehr. Doch all das verhallt in Bayern, frühe und stetige Selektion kennzeichnen unser Schulwesen. Warum?
Florian Kohl:
Das ist eine gute Frage. In den Gesprächen mit Regierungsverantwortlichen bekomme ich letztendlich immer zu hören, dass man vom bayerischen System einfach überzeugt ist, unabhängig davon, mit welchen Bildungswissenschaftlern man argumentiert. Und natürlich stehen hinter den verschiedenen Schulformen auch starke Lobbys. Mir stellt sich letztendlich die Frage, was wir mit unserem Bildungssystem erreichen wollen. Wollen wir das Potential möglichst aller Kinder zur Entfaltung bringen, damit Kinder auf die Herausforderungen einer immer schwieriger werdenden Realität vorbereitet sind, oder wollen wir Bildung weiterhin als Wettbewerb begreifen, in dem nur die mit den besten Voraussetzungen und Bedingungen Zugang zu allen Ressourcen unserer Gesellschaft erhalten?
Zum zweiten Teil geht´s hier lang: „Schule ohne Aussortieren“ – Interview Teil 2 ⋆ Flori schreibt (florian-kohl.net)
Den Film kann man sich direkt hier anschauen.