In der Bildungslandschaft ist man sich seit Langem mal wieder einig: Die Maßnahmen, die die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz (KMK) zum Lehrkräftemangel jüngst empfahl, werden das Problem nicht lösen. Deshalb kritisierten unter anderem die Verbände und natürlich auch die GEW die Stellungnahme der SWK vom 27. Januar 2023 scharf (1) und wiesen die zentralen Maßnahmen zurück.
Die Kritik wirkte wie ein gemeinsamer Aufschrei, nachdem die SWK ihre „Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel“ vorlegte, die 16 Professor*innen erarbeitet hatten. Dabei ist die Stellungnahme erstmal ein Beleg dafür, dass der dramatische Lehrkräftemangel in der KMK endlich angekommen ist. Bildungsforscher Klaus Klemm wies bereits 2022 darauf hin, dass bis zum Jahr 2035 bundesweit 85.000 Lehrkräfte fehlen werden. Auch in Bayern ist die Personalnot groß, besonders betroffen sind Grund-, Mittel- und Förderschulen, aber auch die anderen Schularten werden spätestens ab 2025 nicht mehr über genug Personal verfügen. Gleichzeitig sind die Studierendenzahlen in den letzten Jahren immer weiter eingebrochen. Zwar wurden die Kapazitäten leicht erhöht, sie werden aber nicht ausreichend angenommen. Besonders drastisch ist der Rückgang der Studienanfänger*innen für die Mittelschule mit einem Rückgang von 62 Prozent von 2017 bis heute. (2) Das Lehramt, so scheint es, hat ein gewaltiges Attraktivitätsproblem.
Anpassungen sind Verschlechterungen
Was aber ist nun so brisant an den Empfehlungen der SWK, dass die GEW und die Verbände derart erzürnt sind? Auf Seite vier präsentiert das Schreiben „zentrale Empfehlungen“, die wir in Bayern bereits aus dem Piazolo-Paket für Grund- Mittel- und Förderschullehrkräfte kennen: Anpassung des Ruhestandseintritts – mit „Anpassung“ ist immer Verschlechterung gemeint –, Anpassung der Reduktion der Unterrichtsverpflichtung aus Altersgründen, Anpassung der Möglichkeiten der Teilzeitbeschäftigung, Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung durch ein Arbeitszeitkonto. Klar ist, dass hier das Blut Betroffener bereits in Wallung gerät. Auch der Vorschlag zur Anpassung der Klassengröße beruhigt nicht. Bei Punkt fünf bleibt man dann hängen und stutzt, denn hier werden vorbeugende Maßnahmen zur Gesundheitsförderung vorgeschlagen. Doch wer an Arbeits- und Gesundheitsschutz gedacht hat, wird enttäuscht. Achtsamkeitstraining und eMental-Health-Angebote, Coaching- und Supervisionsangebote sowie Kompetenztrainings sollen vor allem die Belastungsfähigkeit von Lehrkräften steigern. Zusammengefasst empfiehlt die SWK also auf der einen Seite Maßnahmen, die Lehrkräfte noch mehr belasten, um auf der anderen Seite Maßnahmen vorzustellen, die dafür sorgen sollen, dass diese die Mehrbelastungen auch tragen können. Oder anders: Investiere und mache dich fit, liebe Lehrkraft, denn die Belastungen werden steigen!
Weitere Ideen nützen aktuell wenig
Doch die Stellungnahme ist umfassender. Sie benennt ohne Beschönigung den Lehrkräftemangel klar und deutlich. Es werden auch einige Maßnahmen vorstellt, die unter den derzeitigen Rahmenbedingungen Sinn machen können und die auch bereits die GEW Bayern und der GEW-Hauptvorstand (3) wiederholt gefordert hat. Eine Erleichterung der Anerkennung von Lehrkräften mit ausländischen Abschlüssen beispielsweise, diverse Nachqualifizierungsmaßnahmen für Lehrkräfte in vom Mangel noch nicht so betroffenen Schularten, die Entlastung der Lehrkräfte von Organisations- und Verwaltungsaufgaben, Qualifikationsmöglichkeiten für Quer- und Seiteneinsteiger*innen. Jedoch werden die meisten davon bereits umgesetzt, um den aktuellen Betrieb irgendwie aufrechterhalten zu können.
Andere Maßnahmen müssen kritisch diskutiert werden, beispielsweise die Empfehlung, Modelle des Hybridunterrichts in der gymnasialen Oberstufe zu erproben. Gemeint ist damit, dass zwei Kurse simultan von einer Lehrkraft unterrichtet werden. Der erhöhte Korrekturaufwand könne dann laut SWK von qualifizierten Korrekturassistent*innen übernommen werden. Auch neue Ideen zur Erhöhung von Selbstlernzeiten (in der gymnasialen Oberstufe) durch neue Lernkonzepte wie flipped classroom, computergestütztes kollaboratives Arbeiten, tasked based language learning sind zwar innovativ, bleiben aber aus der Not geboren. So weist auch die SWK darauf hin, dass aufgrund der Komplexität der Lernsettings entsprechende Selbstkompetenzen der Schüler*innen und natürlich auch didaktische Kompetenzen der Lehrkräfte für die praktische Umsetzung erforderlich seien. Damit sparen diese Maßnahmen erstmal keine Lehrkräftestunden ein und sie erfordern auch reichlich Vorarbeit. Der Lehrkräftemangel steht dabei für eine beispiellose Krise unseres Bildungssystems, das durch Corona und den Krieg in der Ukraine zusätzliche Belastungen erfährt. Die Daten zum Lehrkräftemangel treffen auf alarmierende Befunde zur Kompetenzentwicklung der Kinder. Die Leistungen der Grundschüler*innen sind seit 2011 in den Kernfächern Deutsch und Mathematik deutlich gesunken. Der IQB-Bildungstrend 2021 warnte davor, dass zu viele Kinder und Jugendliche die Mindeststandards nicht mehr schaffen. Den Empfehlungen der Wissenschaftler*innen der SWK gelingt es nicht, Hoffnung und Zuversicht zu wecken – im Gegenteil. Sie enthalten nichts Neues, sind wenig innovativ, beinahe mutlos und verursachen bei den Betroffenen, die im bereits überlasteten System arbeiten, nur ein verzweifeltes Stöhnen – denn den Großteil der Arbeit sollen sie stemmen, gepaart mit mehr Arbeitsbelastung vor Ort.
Bayerische Regierung handelt zynisch
Währenddessen investiert die bayerische Regierung in Werbekampagnen fürs Lehramt mit strahlenden Menschen (siehe hier, hier und hier), pflastert Bushaltestellen mit Plakaten und hippen Hashtags (#imherzenlehrer), weitet den Quereinstieg aus, wird nicht müde, A 13 zu versprechen, um gleichzeitig Hintertürchen aufzumachen, wirbt in anderen Bundesländern um Lehrkräfte mit Umzugspauschalen, bringt Regionalprämien ins Spiel und lobt vor allem die Vorzüge des Beamtentums und des bayerischen Bildungssystems. Auch das ringt den Betroffenen vor Ort nur noch ein mitleidiges Lächeln ab, grenzt es doch an Zynismus, mit einer Realität Werbung zu machen, die längst keine mehr ist. Denn an das Kernproblem, nämlich die mangelnde Attraktivität des Lehramts, wagt sich niemand heran, keine SWK, kein Bildungsministerium und keine Regierung. Dabei gäbe es durchaus Möglichkeiten: Eine flexible Lehrkräftebildung, wie sie die GEW Bayern erarbeitet hat, eine Entlastung durch weniger Stofffülle, eine zeitlich begrenzte Reduzierung der Stundentafel, die Ausweitung der Schulsozialarbeit und der Schulpsychologie an allen Schulen, ein echter Arbeits- und Gesundheitsschutz mit zuständigen Betriebsärzt*innen und Arbeitsschutzausschüssen vor Ort, zusätzliches Verwaltungspersonal und – wichtig – eine Sozialpolitik, die soziale Ungerechtigkeit nicht verschärft und immer mehr Familien und Kinder in die Armut treibt. Dazu gehört letztendlich auch die Erkenntnis, dass unser selektierendes und auf vergleichbare und messbare Leistung ausgerichtetes Bildungssystems den Bedürfnissen aller Kinder nicht gerecht wird. Wir Lehrkräfte wollen letztendlich auch bestmögliche Arbeitsbedingungen, um allen Kindern und deren Bedürfnissen gerecht werden zu können. Und die beste Werbung fürs Lehramt sind zufriedene Lehrkräfte.
(1) Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel. Stellungnahme der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz. Vgl. kmk.org
(2) Florentine Anders: Prognose und Maßnahmen: Lehrermangel verschärft sich weiter. Vgl. deutsches-schulportal.de v. 26.8.2022
(3) 15 Punkte gegen den Lehrkräftemangel. Vgl. gew.de
Der Artikel erschien in der Mitgliederzeitschrift DDS der GEW Bayern in der Ausgabe 03/04 2023.