12. Dezember 2024

Distanzunterricht, gestrichene Ferien und ein großer Scherbenhaufen

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Am 06.01.2021 verkündete die bayerische Staatsregierung, dass Kindergärten, Kindertagesstätten und Schulen aufgrund der Bedrohung durch das Coronavirus bis Ende Januar geschlossen bleiben würden. Zudem erklärte Mnisterpräsident Söder, dass es in dieser Situation keine Faschingsferien brauche und man die Zeit nutzen wolle, um verlorenen Unterricht aufzuholen und gemäß Piazolo „die ein oder andere Schulaufgabe schreiben zu können“. Ich schrieb spontan einen Kommentar zu dieser Entscheidung, der am Nachmittag des 06.01. auf der Homepage der GEW Bayern veröffentlicht wurde und den ich nun auch hier veröffentliche:

Es war klar, dass der bayerische Sonderweg, wie ihn Piazolo nannte, eine Überraschung bereithalten würde. Zu erwarten war ein Vorziehen der Faschingsferien, um Zeit zu gewinnen. Zeit sowohl für die Optimierung der Lernplattform mebis, Zeit für Schulen und Kollegien, um sich auf die neuen Vorgaben vorzubereiten und Zeit, um die Entwicklung rund um die Infektionszahlen und die mutierte Virusvariante zu beobachten.

Nun hat man es sich aber noch einfacher gemacht. Verkünden durften Söder, Aiwanger und Herrmann. Piazolo nicht. Die Kitas und Schulen bleiben zu. Distanzunterricht für alle, „da wo möglich“, allerdings auch Notgruppenbetreuung, für alle die es brauchen in Kitas, Klassen 1 bis 6 und Förderschulen. Und, Zitat Söder: Da es keine Faschingsfeiern geben werde, brauche es auch keine Faschingsferien. Der Unterricht könnte, sofern der Plan mit der Wiederaufnahme des Unterrichts gemäß KMK-Stufenplan ab Februar gelingen sollte, in dieser Zeit nachgeholt werden. Genaue Zahlen oder Inzidenzen, wie denn der Stufenplan dann umgesetzt wird – Fehlanzeige. 

Und nun tut man so, als sei die Streichung der Faschingsferien gerechtfertigt, weil ja ab nächster Woche „nur“ Distanzunterricht oder Distanzlernen stattfände. Dieser Schluss ist allerdings ein Trugschluss und verkennt schlichtweg die Realität. Jede Lehrkraft, die ihren Unterricht auf irgendeine Form des Distanzlernens mit digitaler Unterstützung umgestellt hat, weiß, dass die Unterrichtsvorbereitung und -durchführung nicht weniger, sondern weit mehr Arbeit macht. Zumal dieses „da wo möglich“ ein enormes Problem offenbart: In der Breite ist Distanzunterricht eben auch nach 10 Monaten nicht selbstverständlich: Fehlende Dienstgeräte, fehlende Geräte bei Schüler:innen, fehlende Internetanbindungen, fehlende notwendige häusliche Unterstützung, fehlende Softwaremöglichkeiten, eine fehlende zuverlässige Lernplattform und, leider auch ein selbstverschuldetes Problem, fehlende Kompetenzen bei vielen Beteiligten machen erfolgreichen Distanzunterricht in vielen Fällen unmöglich. Denn anstatt die Zeit nach den Sommerferien gezielt dafür nutzen zu lassen, im Präsenzunterricht gemeinsam notwendige Kompetenzen im Umgang mit digitalen Tools zu üben, wurde der Lehrplan durch das Kultusministerium kaum angetastet, was auf Seiten der Lehrkräfte zu verzweifelten Versuchen führte, dem Druck nachzukommen und möglichst schnell viele Leistungserhebungen einzuholen. Da erscheint es mal wieder wie Realsatire, wenn dann der Kultusminister die Schulen bittet, die viel gescholtene und den Anforderungen nicht gewachsene digitale Lernplattform mebis ab nächster Woche nicht zu nutzen.  

Lehrkräfte und alle am Bildungsgeschehen Beteiligten leisten trotz der in der Breite oft unsäglichen Rahmenbedingungen, trotz mangelhaftem Gesundheitsschutz, trotz fehlender Wertschätzung seit Monaten alles, um die Situation irgendwie zum Positiven zu wenden. Sie versuchen die unzähligen, teilweise irrsinnigen und immer viel zu kurzfristigen Anweisungen umzusetzen in einem System, das auch ohne Corona längst im roten Drehzahlbereich läuft. Sie stützen beinahe bis zur Selbstaufgabe ein Bildungssystem, das von einem Virus gnadenlos all seine Schwächen aufgezeigt bekommt: Lehrkräftemangel, Bildungsungerechtigkeit, Digitalisierung, Gesundheitsschutz. Doch anstatt den Scherbenhaufen aufzukehren, wird verzweifelt versucht, das System trotz Pandemie aufrecht zu erhalten. Hier noch ein wenig, da noch ein bisschen mehr, irgendwie wird es schon klappen, streicht man eben die Ferien. Damit lügt man sich in die eigene Tasche.

Es ist wichtig, dass im Kampf gegen die Pandemie alles unternommen wird und auch die Kitas und Schulen endlich mit in das Pandemiekonzept einbezogen werden. Das hatte man vor dem Herbst versäumt, Infektionsgeschehen in den Bildungseinrichtungen zugelassen und damit zu den hohen Zahlen und Verlusten beigetragen. Es ist aber ebenfalls wichtig, im Sinne der Kinder und Jugendlichen alles dafür zu tun, die Nachteile der Schließungen abzumildern. Die betreffen vor allem diejenigen, die bereits vor Corona auf der Verliererseite des selektiven Bildungssystems standen oder die schlichtweg nicht in der Lage sind, Distanzlernangebote in Anspruch zu nehmen: Grundschulen, Schulen in sozialen Brennpunkten, Förderschulen und Kinder und Jugendliche mit Behinderungen. Unterstützung könnten Lernräume (Stichwort „study halls*“) mit bereitgestellten digitalen Arbeitsplätzen und personeller Betreuung bieten. Oder Schulen, die selbst nach Bedürftigkeit Notbetreuung organisieren. Und man sollte schnellsten über optimalen Gesundheitsschutz inklusive der priorisierten Impfung für all diejenigen nachdenken, die trotz Schließungen in Präsenz arbeiten werden müssen.

Die jetzt beschlossenen Maßnahmen beinhalten das Prinzip Hoffnung, dass die Zahlen sinken und man möglichst schnell wieder „normal“ weitermachen kann. Wieder einmal. Durch Streichung der Faschingsferien möchte man „Verpasstes“ aufholen. Vor den Weihnachtsferien gehörte die Quarantäne bereits zur schulischen Realität. Verpasst wurde also schon einiges. Man muss sich auch aufgrund der aktuellen Entwicklung in Nachbarländern fragen: Was passiert, wenn die Zahlen nicht sinken? Streicht man dann die Sommerferien? Oder Ostern, Pfingsten?

Es wird Zeit, sich einzugestehen, dass dieses Schuljahr unter dem Aspekt des „Normalen“ ein verlorenes Schuljahr ist. Man kann Lehrpläne, Prüfungen, Übertritte nicht einfach weiterhin so behandeln wie das in einem normalen Schuljahr der Fall wäre. Man kann nicht auf dem Rücken der bereits Überlasteten den Druck weiter erhöhen. Man kann nicht wichtige Puffer einfach streichen, um irgendetwas aufzuholen, was längst nicht mehr aufzuholen ist. Auf dem Papier stehen jetzt von Januar bis Ende März elf Wochen Unterricht nonstop, inklusive Zwischenzeugnisse oder Lernentwicklungsgespräche, Noten- und Lehrplandruck, unzähliger Korrekturarbeiten, Elterngespräche und pandemiebedingt besonderer pädagogischer Herausforderungen. Und für die Lehrkräfte noch nicht mal eine Handvoll Tage, um sich jetzt auf diese Situation vorzubereiten. Wer aus der Praxis kommt, weiß, was das bedeutet, auch für die eigene Gesundheit. Was es jetzt braucht, sind pragmatische Lösungen, Raum für ebendiese und vor allem Fürsorge für das überlastete Personal.

*Zur Erläuterung: Study Halls, oder so genannte Lernräume, bezeichnen das Konzept, digital ausgestattete Arbeitsplätze für Schüler:innen zur Verfügung zu stellen. Damit könnte in Zeiten der Pandemie gewährleistet werden, dass alle Schüler:innen unabhängig von ihrer häuslichen Situation die Möglichkeit haben, am Lernen auf Distanz ohne Einschränkungen teilnehmen zu können.

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